Über den Spielfeldrand hinaus – Boardgame Historian

Auf unserem Pegasus Spiele-Blog möchten wir euch nicht nur unsere Spiele vorstellen und spannende Geschichten erzählen, sondern auch Autor:innen, Illustrator:innen und viele weitere Menschen im Brettspiel-Umfeld zu Wort kommen lassen. So wie Anna und Lukas vom Projekt Boardgame Historian. Auf ihrem Blog geht es um die Geschichte von und in Brettspielen. Das heißt, sie nehmen sich nicht nur einzelne Spiele vor, sondern betrachten auch das gesamte Thema Spielen aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Was genau das bedeutet, welche Bedeutung Brettspiele für die beiden persönlich haben und natürlich, ob die beiden ein Pegasus Lieblingsspiel haben, das haben sie uns in einem Interview verraten. Also genug der Vorrede und los geht´s:

Für alle, die euch nicht kennen. Könnt ihr euch nochmal etwas genauer vorstellen? Wer seid ihr?

Wir sind Anna Klara Falke und Lukas Boch und arbeiten beide an der Universität Münster. Anna ist Klassische Archäologin und promoviert gerade zum Thema „Antike Brücken im Vorderen Orient“. Lukas hat katholische Theologie und Geschichte studiert und arbeitet am Institut für Historische Theologie und Ihre Didaktik an der Universität Münster und promoviert momentan zu kirchenhistorischen Motiven des Mittelalters im modernen Brettspiel. Zusammen haben wir Ende 2020 das Projekt Boardgame Historian gegründet. Neben uns sind aktuell etwa 20 weitere Wissenschaftler:innen in dem Projekt versammelt, die alle aus dem Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften kommen.“

Wie kamt ihr darauf, euch auf wissenschaftlicher Ebene mit Brettspielen zu beschäftigen?

Wir haben uns zunächst mit digitalen Spielen beschäftigt, zu denen es schon eine breite Forschung gibt, die immer weiter wächst. Unter anderem sind wir beide auch im Vorstand des Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele (AKGWDS), der Wissenschaftler:innen, die sich für dieses Themenfeld interessieren, vereint. Die Forschung zu Spielen wird unter dem Begriff Game Studies zusammengefasst. Analoge Spiele werden, vor allem im deutschen Diskurs, dabei aber so gut wie gar nicht behandelt. Digitale Spiele sind zwar in der Öffentlichkeit noch deutlich präsenter, aber auch die Popularität von analogen Spielen wächst, gerade in Deutschland, immer mehr (bestes Beispiel ist die SPIEL in Essen, zu der jährlich Hunderttausende Besucher:innen strömen). Damit sind analoge Spiele ganz klar keine Nische mehr, sondern sollten auch aus wissenschaftlicher Perspektive ernst genommen und betrachtet werden. Da wir beide auch privat begeistert Brettspiele spielen, wollten wir diesem Desiderat entgegentreten.“

Und wie ging es dann weiter? Wie kamt es dann dazu, dass ihr das Projekt Boardgame Historian ins Leben gerufen habt?

„Nach einem Vortrag von Lukas auf der SPIEL Digital 2020 zum Thema „Das Mittelalter im modernen Brettspiel“ haben wir zunächst einen Instagram-Kanal gegründet, der erfreulicherweise schnell gewachsen ist. In einem nächsten Schritt haben wir einen Blog beantragt. Hier veröffentlichen wir nun Artikel, Spielvorstellungen und Interviews rund um das Thema Geschichte in und von Brettspielen sowie zu gesellschaftlichen Themen in Brettspielen. Mittlerweile haben wir sogar eine eigene ISSN für den Blog und unsere Veröffentlichungen sind über Bibliothekskataloge an Universitäten auffindbar. Außerdem findet man uns mittlerweile auch auf Twitter.

Einer unsere Grundsätze ist dabei, dass Geschichte immer eine Form von Konstruktion ist. Wie es „wirklich“ gewesen ist, kann man nur versuchen, möglichst plausibel zu rekonstruieren. Streng genommen untersuchen wir also nicht die Vergangenheit, sondern die Vorstellung von dieser. Die Darstellungen von Geschichte in Spielen  beeinflussen aber wiederum die Vorstellung der Rezipient: innen von der Vergangenheit. Deswegen ist es wichtig sich mit diesen Vorstellungen zu beschäftigen. Von diesen Fragen ist es nur ein kleiner Schritt zur Repräsentation von anderen gesellschaftlichen Themen im Brettspiel.

Zudem ist es uns wichtig nicht bloß über, sondern vielmehr in Zusammenarbeit mit der Spieleszene zu forschen. Nur so kann man dem Forschungsgegenstand gerecht werden.“

Lukas, du forscht für deine Promotion zu Brettspielen, kannst du uns darüber etwas mehr berichten?

„Gerne. In meiner Dissertation möchte ich herausarbeiten, dass Brettspiele, genau wie Romane, Filme, oder digitale Spiele, Quellen sind, die man auf deren Darstellung von Geschichte untersuchen kann. Denn all diese Produkte stehen ja nicht einfach so für sich, sondern sie entstehen in einem Prozess, der in dem Kontext seiner Zeit steht. Das heißt, dass Werte, Normen oder Vorstelllungen, die zu dieser Zeit eben aktuell sind, sich ja auch in den Medien widerspiegeln. Es geht also darum, wie Geschichte in Brettspielen dargestellt werden kann und welche Narrative dadurch transportiert werden. Dabei konzentriere ich mich auf kirchenhistorische Motive des Mittelalters. Wie werden zum Beispiel Mönche dargestellt (kleiner Spoiler, Bier spielt hier eine erstaunlich große Rolle) oder wie wird so etwas Abstraktes wie Frömmigkeit in einem Spiel abgebildet? So gibt es Spiele, in denen Frömmigkeit als Ressource auftaucht. Wichtig für meine Forschung ist, dass die Spezifika des Mediums des Brettspiels ernst genommen werden. So kann man nicht einfach die Theorien aus dem Bereich der digitalen Spiele auf analoge Spiele übertragen. Auch wäre es zu kurz gegriffen, lediglich zu überprüfen, ob die historischen Themen „richtig“ dargestellt werden. Es geht mir mehr darum herauszuarbeiten, warum etwas dargestellt wird und welche Vorbilder, die Autor:innen sowie Illustrator:innen für Ihre Darstellungen nutzen. Nur so kann eine Untersuchung des Gegenstands funktionieren.“

Auf eurem Blog beschäftigt ihr euch auch mit anderen Themen als nur Geschichte im Kontext von Brettspielen. So hattet ihr zum Beispiel kürzlich einen Beitrag zu Queerness in Brettspielen. Ergeben sich solche Themen zufällig bzw. aus privatem Interesse oder habt ihr auch Kolleg:innen im Team, die einen entsprechend wissenschaftliches Interesse in diese Richtung haben?

„An dieser Stelle würden wir gerne unser Redaktionsmitglied Toni Janosch Krause (Kulturanthropologe) antworten lassen:

Hier ist unser Name vielleicht etwas irreführend, verleitet er doch dazu, anzunehmen, es gehe nur um Geschichte von und in Brettspielen. Aber vielmehr geht es vor allem um die Vorstellung und die Bilder von Geschichte und weiter gedacht also auch um die Vorstellungen und Bilder von Gesellschaft, die sich in Brettspielen finden. Als populärkulturelles Medium beinhalten, transportieren, vermitteln und repräsentieren Brettspiele Vorstellungen über ganz verschiedene Aspekte unserer Gesellschaft – so neben Geschichtsvorstellungen, eben auch bspw. Fragen nach Diversität. Wenn wir uns also Geschlechterdarstellungen in Brettspielen anschauen, dann sagt uns das auch etwas über unsere Gesellschaft. Es ist beispielsweise spannend zu sehen, wie sich das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Charakteren in Spielen über die Jahrzehnte verändert hat, oder wie kritisch mittlerweile bestimmte Darstellungen und Themen behandelt werden. Kolonialismus ist eines dieser Themen, das lange einfach kein Thema war, obwohl äußerst viele Brettspiele sehr eurozentrische Blickrichtungen einnehmen. Sich das anzuschauen und auch zu schauen, wie sich so etwas über die Jahre ändert und womit diese Änderungen vielleicht zu tun haben, ist äußerst spannend und gehört mit zu unseren wissenschaftlichen Interessen.

Mit unserem Team decken wir dazu neben den Geschichtswissenschaften auch andere Disziplinen wie zum Beispiel Klassische Archäologie, Literaturwissenschaften, Philosophie, Erziehungswissenschaft, Theologie oder Kulturanthropologie ab. Jede:r schaut dabei eben aus ihrer/seiner jeweils eigenen Perspektive auf das Phänomen Spiel. Wir wollen mit unserem Projekt ja auch eine Plattform bieten, wo sich ganz verschiedene Facetten des Mediums und Phänomens Brettspiel gewidmet werden kann. Wichtig ist es uns, Brettspiel eben nicht als diskursfreien Raum wahrzunehmen, sondern als Medium, in dem sich Gesellschaft und Kultur widerspiegelt.“

Welches sind eure Lieblingsspiele und haben Spiele ohne historischen Kontext überhaupt eine Chance bei euch?

„:D Gerade weil wir uns so viel mit Geschichte in Brettspielen beschäftigen, sind wir natürlich auch für andere Themen offen, Naturthemen und dabei insbesondere Katzen mögen wir auch sehr gerne. Eines unserer absoluten Lieblingsspiele ist Root, die hohe Interaktion dabei finden wir super. Aber tatsächlich haben doch erstaunlich viele Spiele einen Bezug zu Geschichte. Fantasyspiele, bedienen sich zum Beispiel so gut wie immer an Motiven des europäischen Mittelalters. In Everdell, was wir auch sehr gerne spielen, gibt es ja auch einen Historiker, einen Mönch, ein Kloster, auch wenn hier nicht wirklich ein historisches Thema genutzt wird. ;) Man kann auf jeden Fall festhalten, dass für uns beide das Thema eines Spiels eine große Rolle spielt. Dabei ist uns die Verbindung von Setting und Regelwerk besonders wichtig. Zu unserer Lieblingsspielen gehören auch noch Cyclades und Orléans.“

Gibt es aktuelle Titel im Pegasus Spiele Sortiment, bei denen ihr die Umsetzung bzw. Darstellung historischer Begebenheiten besonders spannend findet? Und falls ja, welche und warum?

Im Sortiment von Pegasus finden wir momentan vor allem das Spiel Spirit Island sehr interessant. Seit längerem gibt es ja eine größere Debatte in der Szene, die sich um die Darstellung von Kolonialismus in Brettspielen dreht. Denn tatsächlich gibt es viele Spiele, in denen wir ein "unbewohntes" Land ins Besitz nehmen und "kultivieren". Spirit Island dreht den Spieß um und wir müssen in der Rolle von Naturgeistern unsere Insel vor Eindringlingen schützen, die unsere Insel verseuchen. Markus Bassermann hat eurem Spiel mit „Antikolonialer Widerstand und stumme Indigene: Vorstellung und Diskussion von Spirit Island“ sogar einen ganzen Artikel gewidmet: Ansonsten ist Anna aufgrund ihres antiken Schwerpunkt ganz begeistert von Polis. Machtkampf um die Vorherrschaft, indem der Konflikt zwischen Athen und Sparta als Ausgangspunkt genommen wird. Ein Spiel, auf das Lukas sich momentan sehr freut ist Clash of Cultures, das ihr ja zusammen mit Frosted Games vertreibt. Das 4x Spiel kommt mit jeder Menge Material und man kann einen Schwerpunkt auf Religion legen, was Lukas natürlich sehr entgegen kommt. Generell hat Frosted Games eine ganze Reihe an großartigen Spielen mit Bezug zur Geschichte.“

Wie seid ihr zum Brettspielen gekommen?

„Gerade Lukas hat viel mit seiner Familie gespielt, vor allem Risiko und Carcassonne mit seinen drei Geschwistern und Onkeln. Das Hobby hat sich über die Jahre dann gehalten, mal mehr und mal weniger intensiv. Mit dem Studium haben wir beide dann wieder intensiver gespielt, hier in Münster gibt es auch einen tollen Spieleladen, die Spielkultur. Im Laufe der Zeit haben wir dann auch immer komplexere Spiele gespielt. Neben dem Brettspielen spielen wir beide aber auch gerne am PC und Pen&Paper Abenteuer, Lukas auch noch Tabletop.“

Zur SPIEL habt ihr ein ganz besonderes Projekt umgesetzt. Ihr habt Wissenschaftler:innen gebeten, kurze Essays einzureichen, in denen sie mit ihrem wissenschaftlichen Hintergrund einen Blick auf analoge Spiele werfen. Erzählt mal, wer ist eurem Aufruf gefolgt und wo finden Interessierte die Ergebnisse?

„Als wir den Aufruf gestartet haben, konnten wir überhaupt nicht einschätzen, wie viele, bzw. ob wir überhaupt Einreichungen erhalten würden. Denn wie gesagt, gibt es noch kaum Veröffentlichungen zu dem Thema. Umso glücklicher sind wir, dass wir nun 27 Einreichungen von Wissenschaftler:innen aller Qualifaktionsgrade, bis hin zu Professoren erhalten haben, sowie zusätzlich von Expert:innen aus dem Bildungssektor. Die Texte betreten vielfach wissenschaftliches Neuland und wir freuen uns, die erste Publikation dieser Art präsentieren zu dürfen, die sich in dieser Tiefe und Breite mit modernen analogen Spielen auseinandersetzt. Wir haben den Call ganz bewusst nicht auf Brettspiele beschränkt und haben deswegen auch Texte zu Magic the Gathering und PnP-Rollenspielen erhalten. Auch die wissenschaftliche Disziplinen der Beitragenden sind sehr divers. Neben historischen Fragestellungen wie der Darstellung von Archäologie in Brettspielen gibt es z. B. auch einen Beitrag von Prof. Philipp Jenke, der eine App entwickelt hat, mit dem man sich seine eigenen Inlays für Brettspiele konstruieren kann. Es ist also wirklich für jeden etwas dabei. Wir haben die Texte in vier Kategorien gegliedert. So gibt es je einen Themenbereich zu „Geschichte analoger Spiele“ und zu „Geschichte und Gesellschaft in analogen Spielen“. Der Themenbereich „Bildung, Wissenschaftskommunikation und Museen“ ist unter anderem für Lehrer:innen interessant, da hier auch Beiträge zu Brettspielen in der Schule zu finden sind. Es gibt aber auch einen Text von Lukas über analoge Spiele als Ausstellungsstücke in Museen. Den letzten Themenbereich haben wir „Über den Tellerrand getauft“ hier finden sich Texte aus ganz unterschiedlichen Disziplinen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Beispielsweise beleuchtet Toni Janosch Krause, was für eine Bedeutung das Digitale für unser analoges Spielen hat.

Alle Texte sind auf unserem Blog (www.boardgamehistorian.com) zu finden. Hier kommt ihr direkt zur Übersicht, von der Ihr euch das aussuchen könnte, was euch am meisten interessiert. Wir freuen uns immer über Rückmeldungen und Anregungen. Wir wünschen ganz viel Spaß beim Lesen!

Herzlichen Dank, Anna und Lukas, dass ihr uns Einblicke in eure Arbeit und das Projekt Boardgame Historian gegeben habt. Wir freuen uns auf viele weitere spannende Inhalte von euch! Wenn ihr nun mehr über das Projekt erfahren wollt, folgt den Beiden doch auf Instagram und Twitter.

Danke auch an euch, dass wir unser Projekt bei euch vorstellen konnten und dass ihr uns als Verlag bei unserer Forschung unterstützt.

 

Ihr habt Fragen, Anmerkungen oder Anregungen? Wir freuen uns auf eure Kommentare zum aktuellen Blogbeitrag im Forum oder eure E-Mail an blog@pegasus.de.