Designer Diary – Aske Christiansen und Living Forest

*„Manchmal wird darüber diskutiert, ob man bei der Entwicklung eines Spiels zuerst einen Mechanismus oder ein Thema im Kopf hat. Bei mir ist es meist ein Mechanismus, der mir in den Sinn kommt, und von da an wechsle ich im Zickzack zwischen den beiden Aspekten hin und her. So können sie sich gegenseitig inspirieren. Aber bei Living Forest war das Thema zuerst da, nur um schließlich verworfen zu werden (für etwas VIEL Besseres!).

Die Idee entstand nach einer Partie Walls of York, einem großartigen Spiel über die Verteidigung von York gegen plündernde Wikinger, das wahrscheinlich ein kleinformatiges Roll & Write hätte sein können, aber stattdessen mit herrlichen kleinen Mauerteilen daherkommt. Ich habe also mit diesen Mauern herumgespielt und gedacht: ‚Jetzt da ich die Mauer gebaut habe, will ich wirklich auch die Stadt bauen‘. Und los ging's!

Ich wollte eine Stadt bauen, diese aber auch mit Menschen bevölkern, die unterschiedliche Fähigkeiten oder Wissen in die Stadt bringen, wenn sie aus dem Umland in die Stadt kommen und gehen. Das erinnerte mich auch daran, dass ich schon länger ein Push your luck-Spiel machen wollte, da ich diesen Mechanismus schon immer mochte, aber ich habe nie wirklich ‚mein‘ Spiel gefunden, um den Mechanismus umzusetzen. Entweder es lief auf ‚Alles oder Nichts‘ hinaus, also scheitern oder alles gewinnen, oder das Push your luck-Element war so dezent, dass es kaum eine Rolle spielte, abgesehen von einem ganz leichten Adrenalinstoß.

Aber hier war plötzlich ein Ansatz, den ich nutzen konnte: die Spielenden könnten wählen, wie sie es machen wollten – entweder könnten sie ihr Glück mit einem großen Deck von Stadtbewohnenden herausfordern und auf den ganz großen Wurf hoffen, oder aber ihr Dorf zurückhaltender aufbauen und sich eher einen Grundstock an Ressourcen aufbauen – oder natürlich irgendetwas dazwischen. Das brachte mich auch auf die Idee, mehrere Siegbedingungen zu haben - eine Möglichkeit sollte sein, das größte Dorf zu haben, eine andere, die meisten Adligen im eigenen Deck zu haben.

Eine andere Lösung, den ‚Alles oder Nichts‘- Effekt abzuschwächen, war, den Spielenden grundsätzlich zwei Aktionen pro Zug zu geben. Aber wenn sie es zu weit trieben, dann hätten sie nur noch eine. Das hat sich sofort richtig angefühlt, denn mal ehrlich, es macht einfach keinen Spaß, einen ganzen Zug zu verlieren, selbst wenn es die eigene Schuld ist.

Anfangs habe ich natürlich überlegt, ob ich nicht zu viele Mechanismen in einen Topf werfe, aber nach den ersten Tests habe ich gemerkt, dass sie sich ganz intuitiv zusammenfügen und dass ich auf einem guten Weg bin. Apropos Tests: Ich muss die großartige Community bekannter und (unverdientermaßen) weniger bekannter Spieleautor*innen erwähnen, die wir in Dänemark haben. Sie haben dem Spiel in all seinen verschiedenen Entwicklungsphasen sehr geholfen und sind ein großer Teil dessen, was das Spiel heute ist.

Living Forest Frühe Prototypenkarte
Frühe Prototypenkarte

Living Forest begann also als 'Pillage!', ein Push your luck-Spiel, bei dem es darum ging, ein englisches Dorf aufzubauen und es gegen Überfälle zu verteidigen. Und auch die Mauern sollten das Spiel noch einige Zeit verfolgen ...

Wie ihr hier seht, hatte ich die Werte in der ersten Version des Spiels aus irgendeinem Grund nach rechts verschoben. Das machte das Aufdecken neuer Karten ziemlich umständlich. Ein Tester hat sie z.B. alle auf den Kopf gestellt, um sie von links nach rechts aufzufächern.

Freund oder Feind?

Zuerst dachte ich, es könnte interessant sein, wenn sich die Spielenden gegenseitig angreifen und sich nach links, rechts oder quer verteidigen müssen, je nachdem, wer die Angriffsaktion ausgeführt hat. Durch diesen Ansatz ergaben sich einige interessante Spielsituationen, aber insgesamt führte es dazu, dass sich die Spielenden zu sehr auf ihre Armeen und Mauern konzentrierten. Also wurde mir ziemlich schnell klar, dass ein gemeinsamer Feind viel besser zum Spielgefühl und zum Thema passen würde. Auftritt der Wikinger!

Meine erste Idee stammte aus dem ‚Use-with-extrem-care‘-Werkzeugkasten von Spieleautor*innen – ein Ereignisdeck! Zu Beginn jeder Runde sollte eine Karte aufgedeckt werden, die Wikinger, päpstliche Dekrete, Kaufleute oder Adlige in die Dörfer bringen würde.

Jeder Charakter veränderte die Art und Weise, wie eine Runde gespielt wurde, ein wenig. Das hat ganz gut funktioniert und da es alle Spielenden gleichermaßen traf, fühlte es sich nicht zu willkürlich an. Aber dieser Mechanismus hat auch alles ein bisschen konfus gemacht und abgesehen von den Wikingern, fühlte sich keiner der Effekte wirklich wichtig für den Spielverlauf an.

Also wanderten die Wikinger langsam zur Auslage mit Stadtbewohnenden, die man anwerben konnte, um das eigene Deck zu erweitern. Das war sehr stimmig, sowohl mechanisch als auch thematisch - denn welcher stolze Wikinger würde schon ein armes Dorf mit nur ein paar Bauersleuten angreifen statt einer blühenden Stadt mit Adligen und Kardinälen?

Von Zeit zu Zeit, wenn der der Markt wieder aufgefüllt wurde, tauchten Wikinger als Vorboten eines Angriffs am Ende der Runde auf. Dieser Angriffsmechanismus funktionierte gut und war einfach zu erklären: die Mauern hielten die Wikinger fern und wenn man davon nicht genug hatte, konnte die eigene Armee den Rest erledigen. Jetzt lag die dritte Siegbedingung auf der Hand – wer die meisten Wikinger abwehren konnte und so letztlich allen anderen half, könnte ebenfalls gewinnen.

Living Forest Früher Prototypenspielplan
Früher Prototypenspielplan

Der frühe Entwurf eines Spieltableaus aus der Zeit als ich noch dachte, die Spielenden sollten sich gegenseitig angreifen. Bei dieser Version mussten Gebäude auch noch von links nach rechts in Reihen platziert werden.

Mit thematisch unvernebeltem Blick

Zu diesem Zeitpunkt funktionierte das Spiel schon sehr ähnlich wie heute und ich hatte das Gefühl, dass ich bereit war, es einigen Verlagen auf der SPIEL in Essen zu zeigen. Das war 2019, noch vor Covid, aber trotzdem hatte ich mir im Vorfeld irgendetwas eingefangen. Ich habe also nur gerade so viel Zeit auf der Messe verbracht wie ich für Meetings musste. Danach bin ich sofort zurück ins Hotel und fühlte mich so krank wie noch nie zuvor (ich wusste, dass es nicht ansteckend war. Das hatte mir mein Arzt vor meiner Abreise gesagt, aber er konnte mir nicht genau sagen, was ‚es‘ war). Es war eine furchtbare Messe, bei der ich zwar mein Bestes tat, um bei den Treffen möglichst okay auszusehen, aber wahrscheinlich machte ich einen ziemlich blassen und gespenstischen Eindruck.

Jedenfalls bin ich jetzt froh, dass ich nicht zu Hause geblieben bin, denn die meisten Verlage, mit denen ich gesprochen habe, schienen an meinem Spiel interessiert. Als ich es Cédric am Stand von Ludonaute zeigte, fragte er sofort, ob wir es anspielen könnten – ein gutes Zeichen, denn eigentlich hatten wir dafür gar keine Zeit! Etwa einen Monat später erhielt ich eine Mail von ihm, in der er mir schrieb, dass er es noch mehrere Male gespielt hatte und dass es ihm sehr gefiel. Aber bevor er einer Veröffentlichung zustimmte, musste er wissen, war ich mit dem Thema verheiratet?

Auch wenn das gesamte Spiel aus dem Thema heraus entstanden war, war die Entscheidung klar: Trotz der tollen Mauerstücke hatte ich absolut keine Bindung zu dem Thema - es hatte mich bei der Entwicklung geleitet, aber es lag mir nicht wirklich am Herzen. Und Cédric auch nicht. Wir waren uns schnell einig, dass wir in Richtung eines Ökosystem gehen wollten, was ich schon immer wieder bei anderen Spielen versucht hatte. Aber jetzt, als ich über eine Idee für ein neues Thema nachdachte, schien es so naheliegend für Pillage! Cédric gefiel die Idee und kurze Zeit später hatte er Apolline Etienne gefunden und fragte er mich, ob mir ihre Kunst gefalle und was ich davon hielte, die Spielgrafiken inspiriert von japanischen Geistern und Studio Ghibli Filmen wie Prinzessin Mononoke zu gestalten. Ich freute mich riesig darüber - Apollines Kunst ist brillant und verleiht allem diesen magischen, mystischen Glanz, und Prinzessin Mononoke ist einer meiner absoluten Lieblingsfilme.

Zuverlässige Wikinger und sprunghafte Mönche

Living Forest Erste Version des Steinkreises
Erste Version des Steinkreises

Aber es gab noch einiges zu tun! Allem voran waren die Wikinger immer wieder ein bisschen zu wackelig: In einigen Partien tauchten sie überhaupt nicht auf, in anderen Partien wurden die Spielenden von ihnen überrannt. Ein weiteres Problem war die Mönchsleiste (natürlich gab es eine Leiste für Mönche - ich betrachte mich schließlich als Euro-Game-Designer! :)). Cédric hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich zu sehr nach dem Bau von Gebäuden anfühlt. Und er hatte Recht – sowohl das Vorrücken auf der Mönchsleiste als auch der Bau neuer Gebäude gab dauerhafte Effekte, die sich sehr ähnlich anfühlten. Wir waren uns auch darüber einig, dass es eine gute Möglichkeit wäre, einen Mechanismus zu finden, der ein wenig mehr Interaktion zwischen den Spielenden einbringen würde.

Gedanklich noch beim alten Thema, hatte ich die Idee, dass die Spielenden versuchen könnten, die anderen Dörfer zu ihrer christlichen Schule zu ‚bekehren‘. So entstand der kreisförmige Mönchsweg, auf dem die Spielenden einander überholen konnten, um einen Bonus zu erhalten. In diesem ersten Entwurf konnte man gewinnen, wenn man es schaffte, über alle Gegenspielenden zu springen und von jedem ein Wappen einzusammeln. So kam eine vierte Siegbedingung ins Spiel, die aber zu einer Menge Nervosität bei den Spielenden führte, bei denen plötzlich nur noch die Mönche im Mittelpunkt standen.

Wir mochten also die Kernidee, aber nicht den Druck, den sie auf die Spielenden ausübte. Also haben wir das Element langsam entschärft, die vierte Siegbedingung gestrichen und stattdessen das Überspringen zu einer Möglichkeit gemacht, den anderen drei Siegbedingungen näher zu kommen, indem den Mitspielenden Punkte gestohlen werden.

Zu diesem Zeitpunkt war sich Cédric sicher, dass er das Spiel mochte, und bot an, es zu veröffentlichen. Ich wusste, dass Ludonaute ein sehr gutes Zuhause für das Spiel sein würde.

Living Forest Späterer Prototypenspielplan
Späterer Prototypenspielplan

Hier hatten sich auch schon die Spieltableaus geändert: Die Mönchsleiste war verschwunden, und die Gebäude konnten natürlicher platziert werden, indem man nun von der Mitte nach außen baute. Das war einer der großartigen Vorschläge, die man beim Testen mit anderen Autor*innen bekommt!

Aber die Wikinger und Mauern - jetzt Yokai und Laternen - spielten uns immer wieder Streiche. Die Yokai waren umhergewandert und hatten die Spielenden an verschiedenen Stellen des Spiels heimgesucht. Zuerst kehrten sie in ihr eigenes Deck zurück, dann wanderten sie in die Decks der Spielenden, so dass die Züge der Mitspielenden eine große Rolle spielten, und dann hatten sie sogar ein kurzes Leben als Würfel. Nach einer Weile stellten wir fest, dass die einfachste Lösung die Beste war: Für jede Karte, die vom Markt genommen wurde, würde in der nächsten Runde ein Yokai auftauchen. Das gab den Spielenden Handlungsfreiheit und sorgte gleichzeitig dafür, dass die Yokai einigermaßen zuverlässig ins Spiel kamen.

Der Abschied von den Mauern

Jetzt standen nur noch die Mauern zwischen uns und einem großartigen Spiel. (Naja, das und das Ausbalancieren einer ganzen Menge Zahlen.) Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Mauern von Laternen in Wolken verwandelt, da wir uns einig waren, dass eine zu starke Anlehnung an japanische Folklore von einem dänischen Designer und einem französischen Verleger, die beide nur rudimentäre Kenntnisse davon hatten, nicht ideal war. Glücklicherweise taten die Wolken dann das, was Wolken eben tun – sie lösten sich einfach in Luft auf.

Nun also passten alle Mechanismen zusammen und ich konnte mich zurücklehnen und (un)geduldig darauf warten, dass das Spiel auf den Markt kommt, während ich verfolgte, wie all die wunderschönen Illustrationen nach und nach enthüllt wurden.

Abschließend möchte ich noch etwas zu dem langwierigen und sorgfältigen Prozess der Entwicklung, der künstlerischen Gestaltung, des Grafikdesigns und der Produktion sagen: Meine Tochter war fast ein Jahr alt als ich sie und meine Frau im Oktober 2021 anlässlich der Veröffentlichung von Living Forest mit zur SPIEL nahm. Während meines ersten Brainstormings mit Cédric hatte ich noch keine Ahnung, dass ich bald Vater werden würde. Das Leben ist seltsam und meistens wunderbar.“

Aske Christiansen

 

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*Das Designer Diary wurde im Original auf Englisch verfasst und für diesen Beitrag ins Deutsche übersetzt.