Der Würfel – Kurze Kulturgeschichte eines Vielseiters

Port Royal ist ein tolles Kartenspiel und seit 2014 ein Longseller. Aber warum daraus ein Würfelspiel (Port Royal – Das Würfelspiel) machen? Zumal auch der umgekehrte Weg vom Würfel- zum Kartenspiel beschritten wurden; man denke nur an das Kartenspiel aus der Welt der Siedler von Catan. Die Antwort ist im Grunde einfach – doch zuvor wollen wir einen Blick auf das Faszinosum Würfel werfen:

Wenn es ein Objekt gibt, das so trefflich wie kein anderes für Spiele und das Spielen steht, dann ist es der Würfel. Seine Symbolkraft weist sogar weit über seine Domäne, das Glücksspiel, hinaus. In der heutigen Spielewelt kommt er aber noch erheblich vielseitiger daher. Selbst das Zufallselement hat man ihm abgewöhnt.

Wer von Würfel spricht, hat in der Regel den klassischen Sechsseiter im Sinn. Üblicherweise ist er versehen mit den Zahlen 1 bis 6, fast immer durch ein bis sechs Augen (Punkte) dargestellt. Idealerweise ergänzen die sich auf den jeweils gegenüberliegenden Seiten zur Summe 7. Dass dieses Artefakt schon uralt ist, ahnt man. So ein Kubus mit – möglichst – exakt identischen quadratischen Flächen hat schon aufgrund seiner vollkommenen Symmetrie etwas höchst Anziehendes. Die ersten Funde von Würfeln, die als Spielgerät eingesetzt wurden, lassen sich im Zweistromland fast 5000 Jahre zurückdatieren.

Symmetrie hin oder her – aber wo steht denn geschrieben, dass ein Würfel sechs Seiten haben muss? Im Grunde könnt ihr auch eine Münze (oder einen anderen flacher Gegenstand) als zweiseitigen Würfel betrachten. Oder ein geformtes Stäbchen mit einer abgeflachten Seite. Auch die lassen sich werfen – und zeigen ein eindeutiges Ergebnis. Solche Gehilfen des Zufalls haben Archäolog*innen in Ägypten gefunden. Das Spiel hieß Senet und wurde mit mehreren Figuren auf einem Brett mit 30 Feldern gespielt. Die ältesten Funde vom Nil deuten darauf hin, dass Senet schon 3500 v. Chr. gespielt wurde.

Im alten Orient waren aber auch schon exotische Form wie ein Tetraeder im Einsatz. Der Vierseiter rollte beim Königlichen Spiel von Ur, datiert auf 2600 v. Chr. Das ist, vereinfacht gesagt, ein Vorläufer von Backgammon. Wie bei diesem legte das Tetraeder-Set die Bewegungsweite der Figuren fest. Ihr seht: Der Bogen bis zum Mammon-Gewürfel von Monopoly oder Laufproben in Rollenspielen ist schnell geschlagen.

Die ganze Erzählung der Zockerei von der Antike über Mittelalter und Neuzeit bis zu den Casinos der heutigen Tage nun aufzurollen, würde zu weit führen. Deshalb nur ein kleiner Exkurs, um zu zeigen, dass Würfel auch jenseits vom Spielbrett (Welt-)Geschichte geschrieben haben: Caesar hat zwar nicht am Rubicon gesessen und gewürfelt, aber sein „Alea iacta est“ wurde zum geflügelten Wort. Der Rest, wie aus der Bürgerrepublik ein Kaiserreich wurde, ist weltbekannter Stoff – nicht nur für viele Würfelspiele.

Solch gewaltige und welterschütternde Szenarien kennen Rollenspieler*innen nur zu gut. Sie dehnen die Anzahl der Würfelseiten dagegen meist in die andere Richtung: Über Sechsseiter lächeln sie nur milde. Unter einem W12, einem Zwölfseiter, tun sie es ungern. Aber es geht ja noch mehr! W20, W24, W30 – sogar einen W120 stellt die Firma The Dice Lab her! Völlig abgedreht, aber das nur nebenbei, klingen auch die aus dem Griechischen abgeleiteten Namen dafür: Der W120 etwa ist ein Diydyakistriakontaeder. Ihr ahnt: Auf solche Figuren kommt man nicht durch Versuch und Irrtum beim Feilen an einem Holzklötzchen, sondern dahinter steckt eine höllisch komplexe mathematische Formel. Aber, und das ist verblüffend, es müssen nicht unbedingt Dreiecke als Grundfigur sein: Der Rhombentriakontaeder verweist namentlich darauf, dass auch andere geometrische Figuren für die Grundfläche herhalten können. Denn, und das ist ja der Witz bei diesen Spielgeräten: Sie müssen aus exakt deckungsgleichen Flächen bestehen. Ansonsten könnte man ja auch, sagen wir mal, ein paar Fünf- und Sechsecke zusammenschustern. Resultat? Würfelfans würden den klassischen Fußball als W32 bezeichnen.

Ein anderes Thema bei diesen Super-Vielseitern, die fast wie eine Kugel rollen, ist: Ein Würfel sollte auf einer Seite liegen bleiben und ein eindeutiges Ergebnis vorweisen. Wobei: Vielleicht wäre das ja noch ein Tipp für Cthulhu – völlig verdrehte Würfel, die die Spielenden in den Wahnsinn treiben … Okay, Spaß beiseite. Denn die Sache mit dem Liegenbleiben hat es in sich. Dabei geht es nicht mal um gezinkte Würfel mit eingebauter Betrugsmechanik, etwa einem kleinen Magneten (ein Grund übrigens, weshalb in Casinos oft transparente Würfel zum Einsatz kommen). Doch auch die Gestaltung respektive Rundung der Ecken und Kanten ist eine Wissenschaft für sich. An den „richtigen“ Stellen abgefeilt, und schon kullert der Eckige ganz rund.

Doch zurück zu den traditionellen Brettspielen mit Würfeleinsatz (und eine Antwort zum Faszinosum Würfel sind wir euch auch noch schuldig). Gewiss, seit Catan und der Räuber-7 haben viele eine Idee von Wahrscheinlichkeitsrechnung im Spiel mit Würfeln bekommen. Doch genau das und die blöden Zufälle treiben natürlich vor allem gestandene Strategiespielende in die Verzweiflung. Der Name des Spieleverlag mit dem Namen „Dices hate me“ ist hier Programm … Die Geschichten der Supergrübler*innen, die alles souverän im Griff haben, bis ein Würfel ins Spiel kommt, sind schier unendlich.

Zum Glück für sie haben die kreativen Köpfe der Spieleautor*innen-Szene in der jüngeren Zeit haufenweise Antworten darauf gefunden, was man alles mit Würfeln treiben kann, ohne dass der nackte Zufall regiert. Dice Placement etwa: Da werden die Würfel zu Workern, die setzt ihr als Arbeiter*innen ein. Je nach Spieldesign können dann auch alle Nicht-6er den großen Auftritt haben. Noch pfiffiger: Bei Tiletum wählt jeder einen Würfel, die Oberseite beziffert die Aktionsstärke, die Unterseite besagt, wie viele Ressourcen man erhält. Oder, wie bei Teotihuacan, der Würfel startet bei 1 und wird nach jedem Einsatz höher gedreht. So werden die Würfel-Arbeiter immer stärker – bis sie „sterben“. Ebenfalls eine charmante Variante, die Würfelidee neu zu interpretieren, zeigt Woodcraft. Da dürft ihr die Würfel „zersägen“, jedenfalls bildlich gesprochen. So werden aus einer 6 zwei 3er, mit denen ihr gleich zwei Aufgaben erfüllt. Ebenfalls sehr hübsch: Wenn Ihr bei Sagrada mit den halbtransparenten Kuben am bunten Glasfenster der berühmten Kirche in Barcelona baut, darf nie zweimal dieselbe Zahl nebeneinander liegen. Und noch gar nicht erwähnt wurden die unzähligen Spiele mit Spezialwürfeln, wo es zum Beispiel eine veränderte Zahlenfolge (1,2,2,3,3,4) gibt oder Aktionssymbole anstelle von Zahlen. Das ist natürlich ein unendliches Feld ... Noch viel mehr über die unterschiedlichsten Einsatzoptionen von Würfeln in Brettspielen erfahrt ihr im Blogbeitrag über Würfelspiele.

Warum aber nun aus einem grandiosen Kartenspiel wie Port Royal ein Würfelspiel machen? Im Grunde gibt schon die ungeheure Vielseitigkeit des kullernden Kubus die Antwort. Er ist ganz einfach beliebt, höchst beliebt. Es gibt sogar regelrecht Süchtige, die es schon in den Fingern zuckt, wenn sie nur das Klackern des Spielgeräts auf dem Tisch hören. Und seitdem Superphysiker Stephen Hawking den berühmten Ausspruch von Physikgenie Albert Einstein „Gott würfelt nicht“ gekontert hat mit „Gott würfelt nicht nur mit dem Universum, sondern wirft die Würfel manchmal so, dass wir sie nicht sehen können“, ist bewiesen: Der Würfel hat Fans bis in die höchsten Sphären.

Alexander Kraft